Prof. Marcel Fratzscher Ph.D., Präsident DIW Berlin. © DIW/B.Dietel
Professor Marcel Fratzscher ist Ökonom, Wirtschaftswissenschaftler und er leitet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin.
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Ein Euro, den Sie in eine 14-jährige investieren, ist deutlich besser als dieser eine Euro, den Sie dann in diese gleiche Frau investieren, wenn sie 24 oder 34 ist.
Wir brauchen in Bezug auf Kinder und Jugendliche ganz dringend die Kindergrundsicherung. Um also die finanzielle Versorgung von Kindern und Jugendlichen auf bessere, nachhaltigere Füße zu stellen. Das hat die Bundesregierung versprochen.
Ich hoffe, dass sie das schnell, großzügig und klug umsetzen wird.
Professor Fratzscher, das Thema Jugendarmut, was bedeutet das aus volkswirtschaftlicher Sicht?
Prof. Marcel Fratzscher: Rein wirtschaftlich gesehen bedeutet Jugendarmut, dass uns als Gesellschaft ein riesiges Potenzial entgeht. Denn es geht um junge Menschen, die durch Armut in sehr frühen Jahren ihrer Chancen im gesamten Leben beraubt werden. Viele von diesen Menschen werden später im Erwachsenenleben arbeitslos oder sie werden wenig Qualifikationen haben. Auch gesundheitlich sehen wir, dass diese Menschen öfter Probleme haben, dass sie eine kürzere Lebenserwartung haben. Und so beanspruchen sie den Sozialstaat viel stärker, als Menschen, die eben nicht in Armut aufwachsen.
So entgeht uns ein Potenzial und es entstehen uns auch riesige wirtschaftliche Kosten. Ich will damit sagen: Kinderarmut oder Jugendarmut ist nicht ein Thema, dass “nur” die Menschen betrifft, die darunter leiden, sondern es richtet einen riesigen wirtschaftlichen und sozialen Schaden für uns als Gesellschaft an.
Das heißt der Staat sollte jetzt einen Euro in die Hand nehmen, damit man ihn später nicht ausgeben muss?
Prof. Marcel Fratzscher: Je früher die Gesellschaft in Menschen investiert, desto besser ist es. Und das zeigen viele wissenschaftliche Studien. Ein Euro, der im frühkindlichen Bereich, also in den ersten sechs Jahren, in einen jungen Menschen investiert wird, zahlt sich später aus. Ein Euro, den Sie in eine 14-jährige investieren, ist deutlich besser als dieser eine Euro, den Sie investieren, wenn die Frau 24 oder 34 ist.
Deshalb sind das auch keine Schulden, sondern es sind Investitionen in Menschen. Und wir investieren in Deutschland viel zu wenig in Menschen.
Wir hinken gerade bei den Investitionen in Bildung weit hinterher. Für mich ist das größte Manko die fehlende Chancengleichheit. Jungen Menschen ist oft sehr früh schon vorbestimmt, was aus ihnen wird.
Die Inflationskrise befeuert diese Ungleichheit aktuell. Warum?
Prof. Marcel Fratzscher: Schon durch die Pandemie ist die Schere im Bildungsbereich weiter aufgegangen. Und jetzt im Krieg sehen wir, dass Menschen mit geringen Einkommen eine viel höhere Inflation erfahren. Menschen mit wenig Einkommen müssen einen viel höheren Anteil ihres Einkommens monatlich für die Dinge ausgeben, die jetzt besonders teuer geworden sind — Energie und Lebensmittel.
Wir haben bei uns am DIW (Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung) in Berlin berechnet, dass Menschen mit geringen Einkommen alleine bei der Energie eine drei- bis viermal höhere Inflation erfahren als Menschen mit sehr hohen Einkommen. Und das Problem ist zudem, dass 40 Prozent der Menschen in Deutschland keine Ersparnisse haben. Das bedeutet sie können nicht auf Rücklagen zugreifen, um die 300 bis 400 Euro mehr für den Lebensunterhalt aufzufangen.
Wir sprechen hier nicht über eine kleine Gruppe, sondern das geht weit in die Mitte der Gesellschaft hinein.
Trifft das die jüngere Generation im Besonderen?
Prof. Marcel Fratzscher: Jugendliche und Kinder sind die vulnerabelste Gruppe, die sich gegen Krisen am wenigsten gut schützen kann. Und daher ist meine Sorge, dass mit der Pandemie und vor allem jetzt mit dem Krieg die soziale Schere, aber auch die Schere über Generationen hinweg, weiter aufgeht.
Gleichzeitig gibt es aktuell ein riesen Steuerplus. Ist das eine gute Nachricht, dass mehr Geld in den Kassen ist?
Prof. Marcel Fratzscher: Es sollte eigentlich in Krisenzeiten irrelevant sein, wieviel Geld der Staat in seinen Kassen hat. Der deutsche Staat hat alle Möglichkeiten, um jegliche notwendigen Ausgaben zum Schutz von Menschen und Unternehmen in dieser Krise zu tätigen. Da gibt es kein Limit und keine Begrenzung. Das muss man sich wirklich bewusst machen: Der deutsche Staat hat 350 Milliarden Euro in der Pandemie für Unternehmen ausgegeben, um sie zu stabilisieren. Ohne Probleme kann er solche Summen auch in dieser Krise ausgeben und er sollte das auch tun. Denn wenn man jetzt nicht ausreichend Schutz bietet für die verletzlichsten Menschen, dann ist der Schaden später viel größer. Wenn wir jetzt klug in Menschen investieren, dann hilft das den betroffenen Menschen, aber auch uns als Gesellschaft und unserer Wirtschaft. So können wir langfristig leistungsfähiger sein und unser gesamtwirtschaftliches Potenzial besser nutzen.
Wo weniger Menschen verloren gehen, oder in gesundheitliche Probleme kommen, ohne Qualifikation von der Schule abgehen, dort sind mehr Menschen, die Arbeit finden und sich einbringen.
Welche Schritte wären aus ökonomischer Sicht jetzt richtig?
Prof. Marcel Fratzscher: Wir brauchen ganz dringend die Kindergrundsicherung, um die finanzielle Versorgung von Kindern und Jugendlichen auf bessere und nachhaltigere Füße zu stellen. Das hat die Bundesregierung versprochen. Ich hoffe, dass sie das schnell, großzügig und klug umsetzen wird.
Zweitens brauchen wir massive Investitionen in Bildung, in Ausbildung und Qualifizierung.
Wir haben immer noch 40.000 bis 50.000 junge Menschen jedes Jahr, die ohne Schulabschluss abgehen. Und das korreliert stark mit Armut oder Armutsgefährdung.
Denn deren Weg ist in vielen Fällen vorgezeichnet. Wir haben 75.000 junge Menschen, die aktuell ohne Ausbildungsplatz dastehen und die, wenn sie keine Ausbildung machen können, keine Chancen haben. Die Gefahr, dass sie auch als Erwachsene in eine Armutsgefährdung rutschen, ist sehr hoch.
Wir brauchen also eine Kindergrundsicherung, massive Investitionen in Bildung, Qualifizierung und viel stärkere Investition in Gesundheit. Denn da haben junge Menschen besonders stark gelitten in der Pandemie.
Der CDU Politiker Carsten Linnemann würde in dem Zusammenhang jetzt von einer “Vollkaskomentalität” sprechen und würde sagen, es wird sich viel zu sehr auf den Staat verlassen. Was entgegnen Sie dem, wenn er sagt: “Sollte nicht lieber jeder selbst die Ärmel hochkrempeln und aktiv werden?”
Prof. Marcel Fratzscher: Für junge Menschen sollte es eine Vollkaskomentalität geben. Das ist die Aufgabe der Gesellschaft in einer sozialen Marktwirtschaft. Wie wollen Sie denn einer 12-jährigen oder einer 15-jährigen sagen: Jetzt verlass dich mal nicht auf die Vollkaskomentalität und mach mal? Der deutsche Staat scheitert daran allen jungen Menschen die gleichen Chancen zu geben.
Für mich geht es hier um Chancengleichheit, dass jeder junge Mensch die exakt gleiche Möglichkeit hat, ihre oder seine Potenziale, Fähigkeiten, Wünsche, Träume zu realisieren. Und das besteht heute in Deutschland weniger als in den meisten anderen westlichen Ländern. Wenn man auf Erwachsene schaut: In Krisenzeiten ist es Aufgabe von uns als Gesellschaft, also vom Staat, die verletzlichsten Menschen zu schützen.
Und meine Antwort auf Carsten Linnemann, den ich sonst schätze, dem ich hier aber entschieden widerspreche, ist: Wir wissen aus vielen wissenschaftlichen Studien, dass Gesellschaften, die in Krisenzeiten hoch solidarisch sind, diese deutlich besser bewerkstelligen.
Ich glaube, das ist eine Stärke, die wir mit der sozialen Marktwirtschaft haben und die sollten wir jetzt nicht über Bord werfen.
Sie waren viel und oft im Ausland unterwegs. Das heißt, Sie haben eine Außenperspektive auf Deutschland. Sie sagen: ganz viele Industrienationen haben gerade diese Problematik. Würden Sie sagen, das ist ein Thema, was man auch viel mehr gemeinsam bearbeiten müsste?
Prof. Marcel Fratzscher: Wir müssen erstens die Globalisierung, also die globale Wirtschaft, neu gestalten, damit eben nicht nur einige wenige davon profitieren, sondern alle Menschen mitgenommen werden.
Wir brauchen zweitens viel mehr Chancengleichheit, also Aufstiegschancen. Übrigens ist das in Deutschland einer der Schwachpunkte. Es gibt kaum ein Land, in dem die soziale Mobilität so gering ist, also wo die Chancen im Erwachsenenleben so stark von Einkommen und Bildungsgrad der Eltern abhängen.
Deutschland steht in manchen Bereichen besser da, in anderen schlechter, und alle haben eigentlich sehr ähnliche Probleme.
Wenn Sie träumen dürften, fünf Jahre in die Zukunft. Dann sind wir im Jahr 2027. Was würden Sie zum Thema Kinder- und Jugendarmut in fünf Jahren gerne in der Zeitung lesen?
Prof. Marcel Fratzscher: Wenn ich träumen dürfte, dann ist eine Headline “Jugendarmut hat sich mehr als halbiert”. Sie liegt nicht mehr bei 20 Prozent, oder knapp 20 Prozent, sondern bei unter 10 Prozent. Oder: “Die Kinder- und Jugendarmutsgefährdung ist niedriger als die von Erwachsenen”. Und eine dritte Headline wäre: “Es gibt eine starke Kindergrundsicherung, die wirklich sicherstellt, dass kein Kind zurückbleibt”.
Gerne lesen würde ich auch: “Das Bildungssystem verbessert sich”. Die Aufstiegschancen für Kinder aus einkommensschwachen, bildungsferneren Familien haben sich deutlich verbessert. Es gibt praktisch keine Schulabgänger mehr, die ohne Schulabschluss abgehen. Es gibt niemanden, keinen jungen Menschen, der nicht einen Ausbildungsplatz bekommt. Und vielleicht noch eine Headline: “Deutschland hat das Lebenschancenerbe eingeführt”, bei dem jeder junge Mensch nach dem Abschluss des ersten Berufsabschlusses mit 21 Jahren 30.000 Euro vom Staat bekommt, um sein Leben besser in die eigenen Hände nehmen zu können und um Träume zu realisieren, um sich selbstständig zu machen, um sich weiterzubilden im Laufe ihres Erwachsenenlebens.
Das werden jetzt mal ein paar Headlines und ich könnte es wahrscheinlich noch ein bisschen fortsetzen.