“Ich glaube ich war 4, als ich zum ersten Mal ins Kinderheim kam“, erzählt Angelique und fügt hastig hinzu: „Aber meine Mama hat alles gemacht was sie konnte, es hat nur einfach nicht funktioniert mir uns”.
Lange hat die heute 18-Jährige mit sich gerungen, ob sie ihre Geschichte öffentlich erzählen soll. Angelique ist aufgeregt. Streicht sich immer wieder ihre langen blonden Haare aus dem Gesicht und nimmt noch einen Schluck Wasser. „Ich möchte nicht, dass die Menschen schlecht über meine Familie denken“, erklärt sie. Andererseits ist ihr wichtig zu sagen: “Ich hatte es nicht leicht”.
Die heute 18-Jährige pendelte in ihrer Kindheit und Jugend viele Jahre zwischen Heimen und ihrem Zuhause. Heute lebt sie abwechselnd bei ihrer Tante und ihrem Freund — damit gilt sie als wohnungslos. “Einmal die Woche muss ich zur Lindenallee, einer Obdachlosenstelle, wo ich postalisch gemeldet bin,” erklärt Angelique.
Jetzt wo sie volljährig ist, möchte sie all das hinter sich lassen und neu anfangen: “Eine eigene Wohnung wäre toll. Dann hätte ich etwas, was mir gehört. Einen besseren Schulabschluss vielleicht, eine Arbeit, ein Auto. Dass alles klappt und dass man nicht immer diese Höhen und Tiefen erleben muss”, sagt sie und blickt auf den Boden.
Höhen und Tiefen gab es im Leben von Angelique viele, weiß Michael Koppetz, der sie seit drei Monaten betreut. Er arbeitet als Sozialpädagoge bei “Rückenwind”, einer Anlaufstelle für schwer erreichbare Jugendliche und junge Erwachsene in Essen. “Das Leben von Angelique lief alles andere als geradlinig. Wir möchten sie dabei unterstützen ihren Platz im Leben zu finden”, erklärt er. Dazu brauche es im ersten Schritt eine finanzielle Absicherung. Im Fall von Angelique bedeutet das Hartz IV.
“Sie in den Leistungsbezug zu bringen, war alles andere als einfach. Die bürokratischen Mühlen mahlen langsam”, erklärt Koppetz, der zugibt manchmal an der fehlenden Sensibilität behördlicher Strukturen zu verzweifeln.
Finanzielle Selbstständigkeit, erklärt er, sei gerade unheimlich wichtig für Angelique. Nur so habe sie die nötige Ruhe, um sich und ihren Weg zu finden.
“Wir machen hier einen Schritt nach dem anderen. Soziale Arbeit braucht Zeit“, so Koppetz, der der jungen Frau in erster Linie dabei helfen möchte ihr eigenes Potenzial zu erkennen und in Zukunft Teil der Gesellschaft und Arbeitswelt zu sein.
“Grundsätzlich war mein Plan Altenpflegerin zu werden, oder mit körperlich eingeschränkten Menschen zu arbeiten“, erzählt Angelique fast euphorisch, fügt dann aber an, dass sie immer wieder davon höre der Beruf sei “unheimlich hart”. “Jetzt bin ich mir unsicher, ob ich das überhaupt schaffe”.
Aussagen dieser Art lassen erahnen welche Spuren Angeliques bisheriges Leben hinterlassen hat. Das angeknackste Selbstvertrauen aufbauen, die eigene psychische Widerstandskraft stärken, all das sind Dinge, die die junge Frau jetzt angehen muss, um in der Lage zu sein, eigene Lebensperspektiven formulieren zu können. Und natürlich braucht es dafür die finanziellen Mittel.
Ob sie als Kind Armut erlebt habe? Angelique schüttelt den Kopf: “Ich weiß, dass ich nicht alles hatte, Markenklamotten zum Beispiel“, aber arm sei sie nicht gewesen. “Natürlich möchte man reisen, oder die Welt sehen, Geld für den Führerschein auf dem Konto haben, weil die Eltern das vielleicht angespart haben.” Doch Geld sei nicht alles, das habe ihre Mama immer gesagt.
Angelique hat Glück, denn bisher wurde sie von ihrer Tante und ihrem Freund unterstützt. “Seit ich Harzt IV bekomme“, erzählt sie “kann ich zumindest auch mal einkaufen gehen und was zurückgeben”. Die aktuellen Preissteigerungen allerdings machen ihr Angst. Angebote der Tafel, oder auch Lebensmittel von “Rückenwind” habe sie bisher trotzdem nicht in Anspruch genommen. Sie komme auch so klar.
Vielleicht, weil das Annehmen von Lebensmitteln ein zu deutliches Zeichen der Hilfsbedürftigkeit wäre? Die 18-jährige kann sich schon vorstellen, “dass es Jugendliche gibt, die diese Hilfe nicht wollen, weil es ihnen peinlich ist”.
Dabei sei es alles, nur nicht peinlich. “Die Menschen hier machen diesen Beruf ja, um Menschen wie mir zu helfen”, sagt sie.
Und dann ist das Interview vorbei. “Ich habe bestimmt viel Blödsinn erzählt”, meint Angelique und atmet tief durch. Die Erleichterung, dass das Gespräch geschafft ist, ist ihr anzusehen. Ob sie den Artikel vor Erscheinen einmal lesen könne, will sie noch wissen. Nicht, dass sie jemanden in ein schlechtes Licht stelle.
Natürlich kann sie diesen Artikel vor Erscheinen lesen. Und dabei wird sie hoffentlich feststellen, dass sie starke Dinge gesagt hat und dass genau eines beim Lesen hängen bleibt: Angelique, du hattest es nicht leicht.